Fallbeispiel mit Lampenfieber

Marianna war, als sie mit dem Gesangsunterricht bei mir begann, 17 Jahre alt und ging noch zur Schule (Gymnasium). Sie hatte vorher noch keinen Gesangsunterricht gehabt und auch keine Erfahrungen in anderer Körperarbeit. Singen war ihr Hobby, aber auch ihr theoretisches Interesse an der Stimme war von Anfang an spürbar.

Mariannas stimmliches und musikalisches Vermögen entwickelte sich im Unterricht gut, liess sich aber nicht auf öffentlichere Situationen übertragen. So konnte sie anfangs vor Publikum nur etwa 50% ihres Vermögens zeigen. Da sie sich damit aber nicht zufrieden geben und durchaus auch auf der Bühne ihre Frau stehen wollte, begannen wir intensiv an dieser Problematik zu arbeiten. Wir arbeiteten insgesamt sechs Jahre miteinander im Stehen, Sitzen und Liegen in atem-und gesangspädagogischer Weise.

Familiäre Informationen

Marianna beschrieb ein liebevolles Verhältnis zu ihren Eltern und den beiden älteren Geschwistern. Die Eltern sind beide berufstätig in unterschiedlichen sozialen Bereichen und haben Marianna stets darin unterstützt, den ihrer Meinung nach wichtigen Gesangsunterricht zu ermöglichen. Sie kamen zu allen öffentlichen Auftritten ihrer Tochter und Marianna konnte sich ihrer konstruktiv-lobenden Anteilnahme sicher sein. Weder die Eltern noch die Geschwister machen selber Musik.

Körperbild

Marianna ist ca. 1,60 m groß, ihr Körper wirkt weich. Er ist leicht füllig, aber gut proportioniert. Die Muskulatur ist normal ausgeprägt, der Knochenbau eher zart. Die Lordosen im Lendenwirbel- und Halswirbelbereich sind sehr deutlich ausgeprägt, der Kopf ist ein wenig hinter die Vertikale zurückgezogen, als würde sie etwas irritiert beobachten. Die Füße stehen leicht auf dem Boden und trotz seiner Fülle wirkt der Körper nicht schwer. Im Verein mit ihren großen, dunklen Augen assoziierte ich ein scheues Waldtier, stets auf dem Sprung und zur Flucht bereit, aber auch freundlich und zutraulich. Die Sprechstimme klingt hell und eher leise.

Atembild

Auffällig an Mariannas Atembild war die Innerlichkeit ihres Ruheatems. Im Sitzen war eine leichte Bewegung der Bauchdecke und der Flanken mehr zu ahnen als zu sehen. Im Liegen konnte ich einen feinen, aber deutlichen Einatemimpuls spüren und einen langen Ausatem gefolgt von einem Moment der Atemruhe. In der Bewegung oder wenn sie sang, nahm die Atembewegung sichtbar zu und füllte zunehmend den Brustraum. Empfand sie die Übungen als anstregend oder schwierig verlagerte sich ihre Atmung ausschließlich in den Brustraum (Hochatem), was widerrum vermehrte Anstrengung schuf. Nachdem ihr dieser Zusammenhang durch meine Rückmeldungen bewusst geworden waren, arbeiteten wir zunächst am Beckenraum und einer dort für sie deutlich wahrnehmbaren Atembewegung. Sie empfand die darauf ausgerichteten Übungen als angenehm und beschrieb zunehmend ein Gefühl der Erdung.

Stimmbild

Die Prüfung ihrer Singstimme offenbarte eine wunderbar leichte und glänzende Höhe. Ab d2 bis zum d3 fühlte sie sich offensichtlich stimmlich am wohlsten. Die tieferen Register waren unauffällig, dem Alter und Ausbildungsstand angemessen. Von ihrer stimmlichen Präferenz ausgehend arbeiteten wir uns zum f1 hinab, die Randschwingung (Kopfstimme) fördernd und gleichzeitig trainierte sie die reine Vollschwingung (Bruststimme) in der tiefen Lage. Später führten wir diese beiden stimmlichen Grundqualitäten zusammen. Ihre Fortschritte waren ihrem Fleiß entsprechend gut und so  entschied sie sich nach gut einem Jahr zu einem ersten öffentlichen Vorsingen im Rahmen eines Schülerkonzertes. In der Woche vor dem Konzert gab sie an, nicht sehr aufgeregt zu sein. Als sie dann auf der Bühne stand, brach ihre Stimme immer wieder besonders bei hohen Tönen und ihre Präsenz nahm insgesamt rapide ab. Sie beschrieb hinterher Angst und Aufregung wahrgenommen zu haben und sich als Schutz vorgestellt zu haben, das Publikum sei gar nicht da, sondern weit weg wie hinter Nebel verschwunden. Sie flüchtete innerlich, schottete sich ab vom bedrohlichen Außen. Im Nachhinein schob sie diese Erfahrung darauf, einen schlechten Tag gehabt zu haben und ohnehin der ängstliche Typ zu sein. Daran könne man nichts ändern, meinte sie. Erst nach einer ähnlichen Auftrittserfahrung drei Monate später war bei ihr die Bereitschaft da, im Unterricht intensiv an diesem Problem zu arbeiten.

Beginn der gemeinsamen Arbeit am Lampenfieber

Nachdem Mariannas Problem nach zwei ziemlich misslungenen Auftritten im Rahmen von Schülervorsingen  für uns beide offensichtlich geworden war, begannen wir uns intensiv damit auseinander zu setzen. Die grundlegende Voraussetzung für einen gelungenen Auftritt ist natürlich die Beherrschung des Stückes, d.h. es gilt, eine realistische Einschätzung des eigenen Könnens zu gewinnen. In Mariannas Fall waren die für den Auftritt ausgewählten Stücke ihrem Können entsprechend und ihr Vortrag im Unterricht gelungen und nicht allzu differierend.

Auf ihre Eltern angesprochen, gab Marianna an, beide würden öffentliche Auftritte unbedingt vermeiden und es als sehr unangenehm empfinden vor größeren Gruppen zu sprechen. Es scheint, als hätte Marianna ihre Angst vor öffentlichen Auftritten von ihren Eltern übernommen. Es galt also für sie, diese Angst zu hinterfragen und zu modifizieren.

Die von ihr gewählte Strategie mit der Angst umzugehen, war dabei die innere Flucht aus der Realität. Auch von unerfahrenen Sängern mit mittelschwerem Lampenfieber habe ich diesen Fluchtreflex schon häufig beschrieben bekommen. Er scheint auf den ersten Blick eine probate Lösung des Problems anzubieten. Fürchtet man sich vor dem Publikum, zaubert man es in Gedanken einfach weg. Eine solch enorme Verdrängung und gedankliche Abspaltung der Realität gelingt aber erstens nie vollständig und führt zweitens zu einer geistigen Blockade. Man ist einfach nicht mehr fähig sich in ausreichendem Maße auf seinen Vortrag zu konzentrieren. Sichtbar erlebt man es als Minderung der Bühnenpräsenz des Sängers, oft kommt es auch zu ungewöhnlichen Intonationsschwächen, lange Töne gelingen nicht, hohe Töne brechen und der Mensch wirkt muskulär unterspannt, vielleicht auch zappelig.

Wenn ein Mensch sich gedanklich flüchtet, bricht er damit sowohl den Kontakt nach außen, als auch zu sich selbst ab. Er ist nicht mehr im vitalen Raum positioniert, lebt nicht exzentrisch über sich hinaus, sondern ist sensorisch in sich zurückgezogen. Nicht nur die Wahrnehmung der äußeren Peripherie, sondern auch die Empfindung der eigenen Körperperipherie geht dabei verloren.

Für Marianna erwies es sich als sehr hilfreich an der eigenen Körperwahrnehmung zu arbeiten und darüber deutlich spürbaren Kontakt zu sich selbst herzustellen. Ich bot ihr verschiedene atemtherapeutische Übungen zum Thema Empfindung an.

Marianna konnte mit der Zeit ihre Sammlungs- und Empfindungskraft für ihre Körperperipherie deutlich steigern. Sie erlebte den Zusammenhang zwischen der bewussten Wahrnehmung des eigenen Körpers und der dadurch entstehenden Wahrnehmung für sich selbst. Durch die Empfindung des Körpers stellte sie Kontakt zu sich selbst her. Es galt für sie nicht mehr der Satz: Ich bin in meinem Köper, sondern zunehmend : Ich bin mein Körper. Diese Entwicklung erlebte sie als ungeheuer befreiend und stabilisierend.

Es gelang ihr im Übrigen besser ihre Füße im Stehen oder Gehen wahrzunehmen, wenn sie versuchte, die Beschaffenheit des Untergrundes mit den Fußsohlen zu ertasten. Für die Wahrnehmung der Hände im Stehen oder Gehen war ein Gegenstand, den sie betasten konnte, hilfreich. Aus dieser Übung abgeleitet erwies es sich später als sehr hilfreich für sie während eines Vorsingens mit einer Requisite zu hantieren. Sie blieb dadurch lebendiger im Kontakt zu sich. Hier zeigte sich schon, dass der ins Außen erweiterte Kontakt – Boden und Gegenstand – den Kontakt zu sich selbst befördern hilft.

Parallel zu diesen auch aus der Atemarbeit stammenden Kontaktübungen bot ich ihr Übungen an, durch die sie das typische Lampenfieber-Atembild in wertfreiem Kontext erleben konnte. Anfänglich empfand Marianna die Wahrnehmung ihres Atems im sich durch die Sammlung und anschließende Aufdehnung erweiterten oberen Brustraum als beunruhigend. Sie war ganz aufgeregt nach diesen solchen Übungsschritten. Die Hinzufügung eines positiven Bildes half ihr sehr, sich mit dem oberen Atemraum anzufreunden. Mit der Zeit nahm sie auch die dadurch im Körper entstehende Wachheit und Lebendigkeit wahr und lernte sie schätzen. Tatsächlich macht uns das Lampenfieber-Atembild so wach und handlungsbereit wie kein anderes Atembild. Es war ihr über längere Zeit wichtig, sich immer wieder der Anbindung ihres Einatems an den Bauch- und Beckenraum  zu vergewissern.

Wir vertieften diese Erfahrungen durch die Arbeit im Liegen, wobei ich ihren oberen Atemraum durch dehnende und druckgebende Handhabung nach ihrem Maß öffnete. Die für die SchülerIn passive Öffnung des oberen Atemraums kommt der ja auch nicht willentlich sich dorthin verlagernden Atmung bei Aufregung sehr nahe. Zudem kann die SchülerIn im Liegen zunächst besser spüren, ob ihr Atem zu einem Hochatem wird und dieses ggf. auch regulieren, indem sie bewusst die Entstehung der Einatembewegung im Bauchraum zulässt.

Nachdem wir ein halbes Jahr in der beschriebenen Weise gearbeitet hatten, planten wir den nächsten Auftritt. Wir baten dazu, die nachfolgende SchülerIn eine Viertelstunde früher zum Unterricht zu erscheinen. Vor diesem „fremden Publikum“ erprobte Marianna ihre neuen Möglichkeiten mit Aufregung umzugehen. Die Requisite in den Händen war dabei ein erster hilfreicher Schritt auf dem Weg zum Kontakt nach außen, ein Duettpartner war der nächste logische Schritt. Auch hier stellte sich heraus, dass ein gelungener Kontakt zum Du (Duettpartner) die Aufregung lindert.

Schlussfolgerungen

Marianna ist es gelungen, ihr Lampenfieber zu meistern und sehr schöne Konzertauftritte abzuliefern. Dabei hat sich ihr Ruheatem nach sechs Jahren nicht wesentlich verändert, ist innerlich geblieben, wohl aber ihr Leistungsatem während der Phonation. Es gelingt ihr nun, die Verbindung von Kopf bis Fuß atmerisch aufrecht zu halten, auch wenn sie singt und dabei auf der Bühne steht. Auch ihr Körperbild hat sich nicht sehr verändert und sie wirkt immer noch etwas scheu. Sie schafft es jedoch immer besser standzuhalten, wenn sie gefordert wird, auch im privaten und beruflichen Leben. Die wichtigsten Schritte auf diesem Weg waren dabei die positive mentale Besetzung des typischen Lampenfieber-Atembildes und der bewusste Kontakt zu sich selbst und zum Publikum. Beides sind v.a. seelische Leistungen, die sie erbracht hat. Die Übungen, die ich aus dem Fundus der Atemarbeit entwickeln konnte, haben diesen Weg bereitet.

Schülerkonzerte

In meinen Schülerkonzerten bin ich schon seit längerer Zeit dazu übergegangen, bewusst am Kontakt zwischen SängerInnen und Publikum zu arbeiten. Ich tue dies, indem ich am Beginn des Konzertes nicht nur die SängerInnen sondern auch das Publikum darauf einstimme, sich in Kontakt zu begeben. Im weiteren Verlauf des Konzertes wird jeder Schülervortrag von einem anderen Schüler anmoderiert. Die Moderationen wurden vorher z.T. mit meiner Hilfe ausgearbeitet und so formuliert, dass sie den Moderator in direkten Kontakt zum Publikum bringen, indem z.B. eine Frage an das Publikum gerichtet oder in anderer Weise mit dem Publikum interagiert wird. Das überwiegend aus Freunden und Verwandten bestehende, den SängerInnen sehr gewogene Publikum empfindet dies stets als sehr unterhaltsam und reagiert freundlich und zugewandt. Die SängerInnen lieben das Moderieren z.T. gar nicht, berichten aber immer wieder, wie viel wohler sie sich dadurch auf der Bühne gefühlt hätten.

Name der Schülerin wurde geändert.

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