Fallbeispiele zum Sprechtraining

Sowohl Herr K, als auch Frau H. sind in Berufen tätig, die ihre Sprechstimme stark anfordern. Herr K. ist 36 Jahre alt und Therapeut von Beruf, Frau H.(32) als Anglistin in der universitären Lehre tätig. Beide sprechen viel in ihren Berufen, auch vor größeren Menschengruppen.

Herr K. litt unter chronischer Heiserkeit aufgrund von hypertonischem Kehlkopfhochstand. Er hatte, bevor er zu mir kam, diverse phoniatrische Untersuchungen und viele logopädische Stunden hinter sich gebracht, war sich natürlich der Ursache seiner  Heiserkeit und der Halsschmerzen bewusst und und galt als austherapiert, ohne dass sich sein Befinden verbessert hätte.

Frau H. kam zu mir, weil sie sich mit ihrer hellen, mädchenhaften Stimme im überwiegend männlichen Kollegenkreis nicht richtig ernstgenommen fühlte. Der ursächliche Zusammenhang mit ihrer hohen Kehlkopfstellung war ihr nicht bewusst.

Obwohl beide natürlich sehr unterschiedliche Menschen sind, habe ich – den hohen Kehlkopfstand betreffend – doch sehr ähnlich mit ihnen gearbeitet. Deshalb erlaube ich mir, diese spezielle Arbeit mit einer männlichen und weiblichen Variante zu beschreiben.

Familiäre Informationen

Beide berichten von stabilen, „ganz normalen“ Familienverhältnissen. Die Ursprungsfamilien sind in ihrer Wichtigkeit nach hinten gerückt, beide haben eigene Familien gegründet mit jeweils zwei kleinen Kindern. Für unsere Arbeit jedoch interessant waren Hörproben, die ich sie bat, nach ungefähr einem halben Jahr gemeinsamer Arbeit von ihren jeweils gleichgeschlechtlichen Elternteilen zu nehmen. Die Ähnlichkeit ihrer eigenen Stimmen mit den Elternteilen war frappierend. Da die jeweilige Mutter und der jeweilige Vater jedoch als Hausfrau bzw. Verwaltungsbeamter tätig waren, waren ihre Stimmen weder besonders stark angefordert gewesen, noch mussten sie sich damit beruflich profilieren.

Körperbild und Stimmbild (Sprechstimme)

Herr K. ist ca. 1,90 m groß, breitschultrig und gut gebaut. Er wirkt sportlich fit. Die Füße stehen stabil auf dem Boden, die Beine sind ein wenig übertonisiert. Die Kehle wirkt wie nach vorne gedrückt, der Kopf, um Ausgleich bemüht, nach hinten gezogen. Die Schultern sind ebenfalls leicht nach hinten gezogen, die Arme wirken in der Bewegung etwas zu locker.

Frau H. ist ca. 1,68 m groß und schlank. Die Füße stehen gut am Boden, Beine, Becken und Bauch wirken angebunden und durchlässig. Der Brustkorb wirkt dagegen muskulär gehalten, die Schultern sind permanent leicht hochgezogen. Bei beiden war das Kiefergelenk sehr festgehalten und der Kehlkopf hochgezogen und unbeweglich.
Beide sprachen anfangs mit flachen, hell klingenden Stimmen. Sie klang zwitschernd wie ein Vögelchen, durchaus angenehm im Klang, seine Stimme klang rau und etwas kindlich zugleich.

Atembild

Die Atembewegung von Hern K. war bei körperlicher Ruhe im Bauch- und Flankenraum gut sichtbar, aber nach oben und unten begrenzt, d.h. weder wurde der tiefe Beckenraum atmend gefüllt, noch der Brustkorb. In der Bewegung und bei der Phonation wirkte Herr K. oft etwas atemlos, die Atembewegung bildete sich gleichzeitig mehr im oberen Raum ab.
Ein ähnliches Atemgeschehen habe ich auch bei Frau H. beobachtet. Auch sie geriet beim Sprechen leicht außer Atem, obwohl sie in der gemeinsamen Arbeit quasi sofort Atemräume in Bauch und Becken öffnen konnte und dadurch reichlich Atemvolumen zur Verfügung hatte. Bei beiden schien die partielle Kurzatmigkeit nicht an mangelndem Atemvolumen durch Engmachen der Atemräume zu liegen, sondern daran, dass sie den Kontakt zu diesen Ressourcen immer wieder verloren. In der vertikalen Körperachse waren sie nicht durchlässig, der Kontakt und das miteinander Schwingen von Kehle Zwerchfell und Beckenboden waren oft nicht gegeben. Da ich mit beiden nicht auf der Liege gearbeitet habe, gründen  diese Eindrücke auf der visuellen Wahrnehmung.

Beginn der gemeinsamen Arbeit am Kehlkopf

Die Gründe, Gesangsunterricht zu nehmen, waren bei Frau H. und Herrn K. zunächst sehr verschieden. Singen zu lernen war nicht ihr Begehr, sondern die Verbesserung der Sprechstimme. Der Eine kam mit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung durch „unsachgemäßen“ Stimmgebrauch, die Andere beklagte mangelnde Kongruenz von beruflicher Selbstdarstellung und Stimmklang, wie sich herausstellte auch aufgrund „unsachgemäßen“ Stimmgebrauchs. Der Wunsch nach einer neuen stimmlichen Identität war bei Frau H ausgeprägt, bei Herrn K. gar kein Thema. Dafür war die Einsicht in das, was ich hier „unsachgemäßen Stimmgebrauch“ nenne, nur bei Herrn K. vorhanden. Bei beiden war Leidensdruck vorhanden, aber unterschiedlicher Art.

Zum besseren Verständis der nachfolgenden Übungen möchte ich zunächst kurz auf die Anatomie und Physiologie des Kehlkopfes eingehen1. Der Kehlkopf besteht aus einem knorpeligem Skelett, der äußeren und inneren Kehlkopfmuskulatur und den den Kehlkopf auskleidenden Schleimhäuten.  Eingehängt ist er in ein Netz von meist paarigen Muskeln, die man grob unterscheiden kann in kehlhebende und kehlsenkende Muskulatur. Die kehlhebenden Muskeln sind nicht nur in der Mehrzahl, sie sind auch bei den allermeisten Menschen die besser trainierten Muskeln, da sie in lebenswichtige Vorgänge wie Ernährung (Schlucken) und Atmung (Schutzverschluss für die gefährdeten Luftwege) involviert sind.

Für die Schwierigkeiten Herrn K.s und Frau H.s ist dieser Einhängemechanismus von entscheidender Bedeutung, denn nur ein locker aufgehängter Kehlkopf ermöglicht eine physiologisch richtige, „sachgemäße“ Phonation. Ein Kehlkopf, der in hypertone Muskulatur (gemeint sind die kehlhebenden Muskeln) wie in ein zu enges Korsett gezwängt ist, bedingt zwangsläufig entweder eine schwächliche, leise Phonation oder –  wenn der Wille und damit der Druck auf die Kehlkopfmuskulatur (gemeint ist die stimmerzeugende innere und äußere Muskulatur) stark genug sind – eine chronisch überanstrengte Muskulatur.

Frau H. entschied sich unbewusst ihre Stimme den schlechten Bedingungen entsprechend zurückhaltend einzusetzen und erhielt dadurch eine leise, hoch klingende Stimme. Herr K. versuchte, seine Stimme in den (Schul)Dienst zu zwingen und erntete Heiserkeit und Halsschmerzen. Für beide war es zunächst wichtig, diese ursächlichen Zusamennhänge rational zu  verstehen, was ihnen nicht schwer fiel, dann aber auch körperlich zu begreifen. Andauernd zu hoch tonisierte Muskulatur fühlt sich in der eigenen subjektiven Empfindung normal an. Der Unterschied zu entspannter Muskulatur wird oft erst erfahrbar, wenn das Lösen dieser Muskulatur gelingt. In diesem Fall galt es, die kehlhebende Muskulatur zu entspannen. Die Arbeit an der Kehlebene direkt ist oft langwierig und übeintensiv. Schnellere und eindrückliche Erfahrungen ermöglichte hier die indirekte Arbeit über den Beckenboden. Wir arbeiteten also an der Wahrnehmung des muskulären Beckensboden und koppelten das im Ein-und Ausatem gespürte sich Heben und Senken des Beckenbodens an die Kehlkopfbewegung.

Sowohl Frau H. als auch Herr K. konnten sich gut auf die Bewegungen ihres Beckenbodens einlassen und im Sitzen gelang auch das Miteinanderschwingen von Kehle und Beckenboden und dadurch ein für sie deutlich spürbares Lösen der kehlhebenden Muskulatur. Beide beschrieben dieses Loslassen der Kehle als ungewohnt, aber sehr angenehm. Um am unteren Atemraum, den Bauch- und Beckenraum zu arbeiten, diesen für die Atembewegung zu öffnen und ihn seelisch zu beleben, bot ich ebenfalls Übungen an.

Bei beiden bildete sich spürbare Atembewegung im Beckenraum, v.a. Frau H. war dieser Körperraum auch bereits durch die Rückbildungsgymnastik nach ihren beiden Schwangerschaften vertraut. Seelisch beschrieben beide ein Gefühl der Erdung und des sich Niederlassens. Es fiel ihnen übend nicht schwer, diesen Atemraum immer bewusster und deutlicher werden zu lassen.

Für mich wurde immer klarer, dass bei beiden die tiefe Beckenkraft zwar latent zur Verfügung stand, auch für die Stimmgebung, aber die Verbindung dahin, der Zugang dazu nicht immer gegeben war. Wie schon im Körperbild beschrieben, gab es bei beiden einen für das geschulte Auge sichtbaren “Bruch“ in der Vertilkalen. Bei Frau H. wiesen die hochgezogenen Schultern und die angespannte Nackenmuskulatur darauf hin, bei Herrn K. der hinter die vertikale zurüchgezogene Kopf. Vor allem im Stehen wurde die Unterbrechung deutlich, im Sitzen gelangen alle Übungen zunächst deutlich leichter, was auf die im Sitzen stabilere Wirbelsäule zurückzuführen ist. Im Stehen ist die Wirbelsäule labliler und ihre Doppelhelixform ausgeprägter. Aus diesem Grund arbeiteten wir alle Übungen, wenn möglich, zunächst im Sitzen und übertrugen sie dann ins Stehen.

Für Frau H. erwiesen sich der vertikale und saggitale Schulterkreis als besonders fördernd, für Herrn K. stand der Kopfkreis im Vordergrund bei der Arbeit an Kopf, Hals und Schultern. Um die Atem- und Körperräume zu verbinden arbeiteten wir auch direkt an der Wirbelsäule.

Langsam stellte sich eine zuverlässig verfügbare Verbindung von Kehle und unterem Atem- und Körperraum her. Parallel dazu bot ich Stimmübungen an wie z.B. das „Sprechen aus der tiefen Beckenkraft“. Das für Übende und  Lehrende gleichermaßen Schöne an dieser Stimmübung ist, dass man sehr gut hören kann, ob die für die Stimme aufgewendete Energie aus dem unteren Atemraum stammt, da die Stimme immer dann anfängt voll und sonor zu klingen. Sowohl für Frau H. als auch für Herrn K. ergab sich aus dieser Übung heraus ein völlig unvertrauter Stimmklang. Er gelang anfänglich nur, wenn sie sich immer wieder ganz in Ruhe innerlich zu ihrem Beckenboden begaben. Mechanisch, ohne die innere Sammlung gelang die Übung gar nicht. Obwohl unvertraut wurde diese „neue Stimme“ von beiden spontan als tolle Erfahrung bewertet. Sie beschrieben ihre Stimme als zugleich locker und kraftvoll.

Trotzdem war es nicht leicht im weiteren Verlauf der gemeinsamen Arbeit diesen Klang auf die Alltags- und Vortragsstimme zu übertragen. Der Klang der eigenen Sprechstimme ist in der Regel sehr eng mit unserem Selbstbild verbunden. Ein gut Teil Identität drückt sich darüber aus, darum ist die Arbeit am Sprechstimmklang immer auch ein psychischer Angang. Wer nachhaltig seinen eigenen Stimmklang verändert, wird auch anders von außen wahrgenommen.

Frau H. gelangen die notwendigen inneren Schritte dafür schneller als Herrn K., weil sie ihre gewohnte helle, flache Stimme schon seit einiger Zeit als nicht kongruent zu ihrem Selbstbild empfand. Die oben beschriebenen Übungen ermöglichten es ihr nun ganz praktisch, Kongruenz herzustellen. Die veränderte Wirkung auf ihre Umgebung wahrzunehmen, war aber auch für sie herausfordernd.

Herr K.  empfand den sonoren, raumeinnehmenden Bassklang seiner „neuen Stimme“ anfangs zwar als ästhetisch ansprechend, aber doch nicht als zu ihm gehörig. Gleichzeitig erlebte er aber eine deutliche Verbesserung von Heiserkeit und Halsschmerz. Dadurch motiviert, gelang es ihm schrittweise auch innerlich den Raum zu füllen, den diese tiefe, kräftige Stimme für alle wahrnehmbar besetzte. Seine Frau half ihm sehr dabei, dadurch, dass sie von Anfang an seine „neue Stimme“ als sehr angenehm und männlich empfand und ihm so immer wieder positives Feedback geben konnte. Auch seine therapeutischen Klienten reagierten positiv auf wohldosiert eingesetzte Stimmkraft. In anderen Bereichen blieb es lange Zeit schwieriger, sich nicht immer wieder stimmlich zurückzunehmen und pseudo-bescheiden aufzutreten. Aber auch das gelang, durch positive Rückmeldungen von außen gestärkt, immer mehr.

Schlussfolgerungen

Wie man lesen konnte, ist es möglich, den eigenen Sprechstimmklang nachhaltig gravierend zu verändern. Da es sich m.E. immer um eine langwierige Arbeit handelt, ist die erste Voraussetzung dazu eine ausreichend große Motivation bzw. ein bestimmter Leidensdruck. Desweiteren gelingt die Arbeit leichter, wenn die ursprüngliche Ursache nicht in der eigenen Biografie, sondern im stimmlichen Vorbild der Eltern liegt. Verliert man seinen vollen Sprechstimmklang aufgrund von physischer oder psychischer Erkrankung, ist ohne Heilung dieser Erkrankung meist auch der Sprechstimmklang verloren. Von schlechten Vorbildern hingegen kann man sich lösen. Das wird um so leichter,  je weniger man der psychischen Disposition des Elternteils verhaftet ist. Ich denke, ein nachhaltiger Erfolg wird sich nur bei ganzheitlicher Herangehensweise einstellen. Die Übungen, die hier zum Gelingen beitrugen, stammten sowohl aus meinem gesangs- wie aus meinem atempädagogischen Fundus.

Die Namen der Klienten wurden geändert.

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